Zwischen Aneignung und Verfremdung: Ethnologische Gratwanderungen. Festschrift für Karl-Heinz Kohl - Rilegato

9783593388731: Zwischen Aneignung und Verfremdung: Ethnologische Gratwanderungen. Festschrift für Karl-Heinz Kohl
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Der Band lädt ein zu einer Entdeckungsreise auf dem schmalen Grat zwischen Aneignung und Verfremdung. Prominente Kulturwissenschaftler wie Fritz Kramer, Hans Peter Duerr und Mark Münzel führen vor Augen, dass das Fremde nur in den Kategorien des Eigenen beschrieben werden kann – Ethnologie ist kulturelle Übersetzung.

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L'autore:
Volker Gottowik, Dr. phil. habil., ist Ethnologe und Privatdozent an der Universität Frankfurt. PD Dr. Holger Jebens und Editha Platte, Dr. phil., sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Frobenius-Institut für Ethnologie in Frankfurt.
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Noch bis vor wenigen Jahrzehnten besaßen alle Personenkraftwagen Tritt-bretter zum Einsteigen. Da sie auf gleicher Höhe mit dem Fußboden des Wageninneren lagen, kam ihnen keinerlei praktische Funktion zu. Beim Ein-parken wie im Verkehr erwiesen sie sich eher als hinderlich, und ästhetisch standen sie der zunehmenden Tendenz zur Stromlinie im Wege. Daher wurden sie dann auch - wie analog der "Winker" - fast von heute auf morgen aufgegeben, ohne dass jemand so recht Notiz davon nahm. Es handelte sich um anachronistische Bauelemente, die sich "überholt" hatten. Gleichwohl waren sie kulturhistorisch von Bedeutung: Sie stellten ein Relikt der vorausgehenden Kutsche dar, die ihrerseits auf Planwagen und Sänften mit fahrbarem Untersatz zurückgingen, bei denen beiden sie noch die konkrete Funktion einer Treppe erfüllten.

Allgemein finden sich Menschen (und Gesellschaften) nur widerstrebend zu Veränderungen bereit, weil das gewöhnlich weiterreichende Konsequenzen - im Gebrauch, in den Verhaltenskonventionen, im Denken, im Recht und so weiter - mit sich bringt. Doch lassen sich derartige Vorbehalte leichter überwinden, wenn man zwischen Altem und Neuem Bindeglieder, die an beidem teilhaben und den Übergang gleitend gestalten, also gewissermaßen "Trittbretter" einbaut, die den Kontinuitätsbruch "überbrücken".

Neues erwächst immer - wenn auch stimuliert durch exogene Impulse - aus Altem, das heißt konkret nach den Vorgaben und im Rahmen überkommener Konventionen, sei es durch formale Modifizierung, eine Verschiebung in Gebrauch und Funktion, durch Umdeutung oder Anpassung. Anders bliebe es unverständlich und würde zu Störungen mit unter Umständen erheblichem desintegrativem Sprengpotential führen - wie im Fall gewaltsam induzierter Innovationen. Doch besteht je nach Art des betroffenen Kulturgutbereichs ein Unterschied in der Aufnahme- und Akzeptanzbereitschaft. Der Übergang von Schneidwerkzeugen aus Stein oder Muschelschalen zu Messern mit metallener Klinge, vom Steingut zur Keramik, von Grabstock und Kniestielhacke zum Krümelpflug oder von Schleife und Schlitten zum Wagen vollzog sich rasch und ohne auf schwer überwindliche Widerstände zu stoßen, während sich im Brauchtum, den sozialen Institutionen, der Etikette, in Moral, Magie, Ritual, Kult und Glauben vergleichsweise nur wenig bewegt und sich die alten Formen teils über Jahrhunderte hin erhalten. Im ersteren Fall waren Nutzen und Vorteile der Neuerung unmittelbar erfahrbar und einsichtig - ohne dass der Wandel zum Beispiel das gängige Reziprozitätsreglement, das Geschlechterverhältnis, die Verwandtschaftsstruktur oder den Seelen- und Totenglauben berührte; im letzteren dagegen hätte er das Kerngerüst des Begründungs- und Erhaltungssystems der Gesellschaft erschüttert und damit zu Irritationen, Desorientierung, Sittenverfall und Konflikten, unter Umständen zum Untergang der Gruppe führen können.

Die Folge war, dass die Entwicklung innerhalb einer jeden Gesellschaft ungleich beschleunigt, scheinbar zeitlich "phasenverschoben", "ataktisch" oder "dyschron" verlief, wie Wilhelm E. Mühlmann (1904-1988) das Phänomen im Anschluss an den amerikanischen Soziologen William F. Ogburn (1886-1959) beschrieb, der im Rahmen seiner Studien zum sozialen Wandel von cultural lag (kulturellem "Zurückbleiben") gesprochen hatte (Ogburn 1922). Es entstand, wie man auch sagen könnte, eine anachronistische Gefällestruktur.

Das lässt sich paradigmatisch am Beispiel prämoderner "frühagrarischer" Dorfgesellschaften beobachten, die aufgrund ihrer weitgehenden Autarkie und Autonomie, das heißt ihrer über Generationen hin annähernd gleichbleibenden Erfahrung, ein hohes Maß an Integration, Geschlossenheit, Traditions- und Wertetreue sowie, in der Folge davon, ein ausgeprägtes Identitätsbewusstsein besaßen und sich insofern hartnäckig innovationsresistent verhielten. Es herrschte die Auffassung, dass allein die seit alters vermeintlich unangetastet überkommene, offenbar optimal bewährte Ordnung das Dasein sicher verbürge. Nichts durfte sich daher verändern. In derartigen "Folk-Gesellschaften", wie Robert Redfield (1897-1958) sie nannte (Redfield 1967:77), "dringen Familienvorstände, Älteste und Oberhäupter der Dörfer mit Nachdruck auf die Wahrung der Traditionen. Sie sind fest überzeugt, dass Achtlosigkeit gegenüber dem von den Ahnen überkommenen Brauchtum (custom) die Stabilität und Wohlfahrt der Gruppen zu Fall bringen würde" (Schram 1954: 80). Daher war, so auch das Urteil Richard Thurnwalds (1869-1954), "keine Gemeinschaft", solange sie jedenfalls nichts dazu nötigte, "an einem Wandel interessiert, der nur mit Schwierigkeiten verbunden ist" (Thurnwald 1966:377). Der gestrenge Traditionalismus sicherte die "Außenwelt-Stabilisierung" (Gehlen 1964:54-59), das heißt garantierte verlässliche Orientierung und die Vorhersehbarkeit des Empfindens, Handelns und Denkens der anderen (Cancik 2001:247). Er entlastete, indem er allen, so Martin Heidegger, "die eigene Führung, das Fragen und Wählen abnahm" (Heidegger 1993:21). Er war, so der französische Paläontologe, Archäologe und Ethnologe André Leroi-Gourhan (1911-1986), "für die menschliche Art biologisch ebenso unerlässlich, wie es die genetische Konditionierung für die Insektengesellschaften ist. [...] Routine steht für das Kapital, das für ein Überleben der Gruppe erforderlich ist" (Leroi-Gourhan 1980:286).

Selbst benachbarte Dorfgemeinschaften wahrten tunlichst Distanz zu-einander. Nach der Optik des Nostrozentrismus hätte man sich bei Kontakten "herabgelassen", in jedem Fall eine Kontaminierung riskiert. Was Gott geschieden hatte, sollte der Mensch nicht verbinden - getreu dem allgültigen Distinktionsprinzip, Zugehöriges nicht mit Unzugehörigem, Verträgliches nicht mit Unverträglichem in Berührung zu bringen. Wie Hirtennomaden die Vermengung von Milch mit Agrarprodukten mieden, glaubten Bauern im Westsudan, dass es ihre Ernten ruiniere, wenn Rinderdung von Nomaden auf ihre Felder fiel (Forde und Scott 1946:197-198). Vollends Intimverkehr zwischen Angehörigen alloethnischer Abkunft hatte Schwerst-, Miß- oder Totgeburten zur Folge (Müller 1996a:43-44). Überlebte ein Kind, wurde es nach der Geburt getötet. Fremde Geräte, Speisen und Brauchtümer waren gemeinhin tabuisiert (Horton 1967:176) - und so weiter mehr. Im Grunde entsprach das der gesellschaftlichen Transposition der Immunabwehr des Or-ganismus, der, sobald er die Moleküle körperfremder Viren, Bakterien, Pilze und Parasiten erkannt und identifiziert hat, mit entsprechenden Gegenwehr- und Abtötungsmaßnahmen reagiert.

Traten - vor allem einschneidende - Veränderungen auf, wurden sie in der Regel als Strafakte der Ahnen und Götter für schwerwiegende Verfehlungen einzelner oder mehrerer Gruppenangehöriger begriffen. Die Abweichung muss-te durch Sühnung oder Restituierung zunichte, beziehungsweise rückgängig gemacht, in Fällen, in denen sie sich gleichwohl als nützlich erwies, integriert, das heißt zum ursprünglichen Eigengut deklariert werden, das man auf Umwegen lediglich wiedererlangt hatte. Das nahm ihm seine bedrohlichen Eigenschaften und verlieh ihm allmählich die erforderliche Zugehörigkeitsqualität (Liebeck 1928:86). Psychologische Versuche bestätigten, dass Menschen auf neue Reize stark, mit jeder Wiederholung jedoch zunehmend schwächer und schließlich gar nicht mehr reagieren - sie haben sich an das Novum gewöhnt, es ist ihnen vertraut geworden (Seyfarth und Chenney 1993:90-91). Nach einem Mythos der Assiniboin wurde das Pferd, das die Indianer der Great Plains erst um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert kennenlernten, "tatsächlich" bereits zusammen mit ihrem Stammvater (und ersten Menschen überhaupt) erschaffen, befand sich also von Anbeginn an in ihrem Besitz (Lowie 1917: 164-165). Einen analogen Anspruch erhoben auch die Sotho in Südafrika (Wilson 1979:63). Laut Überlieferung der Kágaba in Kolumbien waren es ihre Altvorderen, die als erste die Kunst der Metallverarbeitung beherrschten; sie dankten sie einem ihrer Kulturstifterheroen. Den dauerte indes die schweißtreibende Mühsal, die sich damit verband, und überdies vernachlässigten die Indianer diesenthalben ihre religiösen Pflichten. Daher übergab er die Technik den Franzosen und Briten, jüngeren Brüdern der Kágaba, die daher "heute in der Tat im Ausland die Messer machen". An Fremdgut fand eben, wie der österreichische Missionar Anton Lukesch das auch für die Kayapó im Nordosten Brasiliens bestätigt, Aufnahme allein, "was in das mythische Konzept der Indianer passte [...] Die Bezugnahme auf die Urzeit" macht erst "die Annahme von neuen Ideen" möglich, "ohne dass dadurch die Geschlossenheit und Harmonie ihres Weltbildes wesentlich gestört" wurde (Lukesch: 1969:18).

In Fällen jedoch, in denen Kulturen aneinandergerieten, zwischen denen selbst ein anachronistisches Dissonanzverhältnis bestand, das heißt die sich formal unterschieden und deren eine der anderen zudem noch machtmäßig weit überlegen war, wie das seit Entstehen der Archaischen Hochkulturen immer wieder und immer häufiger geschah, kam es zu störenden, teils gewaltsamen und nicht integrablen Neuerungen mit entsprechend desintegrativen Konsequenzen, die, wo die Kraft dazu noch nicht vollends gebrochen war, zu nativistischen "Heilserwartungsbewegungen" führten. Gewöhnlich bildete sich der Konflikt im Generationenverhältnis ab. Nach wie vor sah man das Verhängnis in einem schweren Verschulden begründet. Nur richtete sich der Verdacht jetzt wider die Jüngeren, die Innovationen gegenüber aufgeschlossener waren und in deren sichtlicher Überlegenheit eine zukunftsträchtige Chance sahen, während die Senioren sie nur als verwerfliche Aberration von der Schöpfungsordnung und den Geboten der Vorfahren auffassen konnten und daher in ihren Wende- und Heilserwartungsutopien auch auf die Wiederkehr der Ahnen und eine totale Reversion des Geschehenen setzten.

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