L'autore:
Nicholas John Conard:
Der Deutsch-Amerikaner Nicholas J. Conard, 1961 in Cincinnati/Ohio geboren, ist seit 1995 Professor der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und leitet dort die Abteilung Ältere Urgeschichte am Institut für Frühgeschichte.
Jürgen Wertheimer:
Jürgen Wertheimer, geboren in München, studierte Germanistik, Komparatistik, Anglistik und Kunstgeschichte in München, Siena und Rom. Seit 1991 ist er Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
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Die Venus aus dem Eis - ein archäoliterarischer Versuch
Jedes Buch hat seine Geschichte, so auch dieses, das wir einen »archäoliterarischen Versuch« genannt haben. Die Geschichte dieses Buches beginnt am 9. September des Jahres 2008, als das Team um den Archäologen Nicholas Conard in einer Höhle des Achtals, nicht weit von Ulm entfernt, einen erstaunlichen Fund machte: in drei Meter Tiefe, einer Schicht, die auf 40 000 Jahre vor heute datiert wird, stoßen die Archäologen auf einige zunächst unscheinbar wirkende Elfenbeinbruchstücke, die sich nach und nach als Teile einer fast vollständig erhaltenen Frauenfigur herausstellen sollten. Die Sensation ist perfekt, als sich erweist, dass die kleine »Venus vom Hohle Fels«, wie sie bald genannt wird, mehr als 10 000 Jahre älter ist als die gleichfalls weltbekannte »Venus von Willendorf« aus Österreich. Denn jener Fund beweist, dass es nicht übertrieben ist, den »Hohle Fels« im abgelegenen Achtal bei Schelklingen auf der Schwäbischen Alb als einen Ursprungsort menschlicher Kreativität und »kultureller Emergenz« zu sehen: Nicht nur die bis heute älteste bekannte Menschenfigur wurde hier gefunden, sondern auch - in derselben Höhle und nur 70 Zentimeter von der Venus entfernt - die ältesten Musikinstrumente der Welt, und zwar mehrere, zum Teil sehr gut erhaltene Flöten.
Die Story von diesen menschheitsgeschichtlich bedeutsamen Funden geht seitdem als Sensation um die Welt und erregt die Fantasie der Experten ebenso wie die des großen Publikums. Als die Funde in Nature publiziert werden, erhält die Redaktion mehr Reaktionen als je zuvor. Fragen über Fragen stellen sich dem Ausgräber und jedem Interessierten: Was waren das für Menschen in der Urzeit? Wie ähnlich waren sie uns? Wie lebten sie? Entwickelte der Mensch die Kunst tatsächlich auf der Schwäbischen Alb? Warum gerade dort? Wie kam es zu diesem Schub an Kreativität? Wer schnitzte die Venus? Wer die Flöte? Welche Funktion hatte die Kunst? Wie klang ihre Musik?
Doch all diese Fragen gehen ins Leere, denn die Menschen, die zu diesen Dingen gehören, sind verschwunden; umso stärker wurde das Verlangen, von den Hinterlassenschaften auszugehen und die Geschichte zu rekonstruieren, die sich hier abgespielt haben mag.
Der Steinzeitarchäologe aber ist hier befangen. So sehr es ihn reizt, Spekulationen muss er sich versagen. Er ist ein Wissenschaftler, der seine Disziplin als exakte Wissenschaft begreift. Was er nicht wirklich mit den Methoden seines Faches belegen oder mithilfe von naturwissenschaftlichen Untersuchungen beweisen kann - davon muss er schweigen, so sehr es ihn auch drängen mag.
Da kommt es dem Paläolithiker gerade recht, wenn er auf einen berufsmäßigen Interpreten und Fabulierer trifft, auf einen Literaturwissenschaftler, dessen Tagesgeschäft es ist, stumme Dinge zum Sprechen zu bringen und Theorien in Geschichten zu verwandeln, um so einen »Horizont« aufzuspannen, vor
dessen Hintergrund die Menschen im Achtal auf der Schwäbischen Alb vor 40 000 Jahren plötzlich lebendig werden.
So erwarten den Leser dieses Versuchs weder Fantasy noch Poesie. Und obgleich es sich um ein Experiment handelt, verfolgen wir auch keine experimental-archäologischen Absichten. Nicht wir verwandeln uns auf Zeit in Eiszeitmenschen und tun so »als ob«. Sondern die Menschen, die damals lebten, nehmen Gestalt an und kommen uns etwas näher. Dabei erhebt unsere Geschichte nicht den Anspruch, eine Wirklichkeit von damals authentisch abzubilden. Nein, die Geschichte liegt nur locker wie ein Tuch über den wenigen Fakten und umspielt sie.
Wir kennen allein die Werkzeuge und die Waffen, die Kunstwerke und den Schmuck aus der Eiszeit und ziehen als Urgeschichtler unsere Schlüsse daraus. Doch über die Menschen, die diese Werkzeuge und Waffen benutzten, die Kunstwerke und den Schmuck herstellten, wissen wir sehr wenig. Wir wissen nichts darüber, was in ihren Köpfen vor sich ging, kennen kein Sterbenswort von den Worten, die diese Menschen vor Zehntausenden von Jahren miteinander wechselten. Alles, was wir von ihnen zu wissen glauben, entspringt letztlich unseren eigenen Gedanken und Gefühlen und ist 40 000 Jahre von dieser uns völlig fremden Wirklichkeit entfernt.
Aus der Unzufriedenheit mit dieser Asymmetrie zwischen Fund und Befund, Artefakt und Existenz erwuchs das Projekt, die Methode der Archäologie und die der Erzählung miteinander in direkte Berührung zu bringen und den Versuch zu starten, Faktenwissen und Erfindungskraft miteinander zu verbinden.
Für den an Fakten orientierten Archäologen bedeutet dies, sich von Spekulationen zumindest anregen zu lassen. Der Erzähler wiederum muss es sich gefallen lassen, seine Erfindungen und Findungen am straffen Zügel der konkret gegebenen Situation zu führen.
Zusammengenommen entsteht aus dieser »interdisziplinären Disziplinierung« im besten Fall mehr als eine bloße Addition: eine solide Spurensuche im Reich der Möglichkeiten, ein kontrolliertes »So könnte es gewesen sein«.
Um das in dieser Form wohl einmalige Projekt starten zu können, haben wir uns einige Spielregeln gegeben, die unbedingt beachtet werden müssen, um Missverständnisse zu vermeiden:
Alles, was definitiv nicht ausgeschlossen werden kann, muss möglich sein.
Es darf nicht verboten sein, die ferne Wirklichkeit mit heutiger Sprache zu benennen.
Es muss verboten sein, die ferne Wirklichkeit mit heutiger Psychologie zu beschreiben.
Wir wollen nicht illustrieren (weder mit Bildern noch mit Wörtern). Die Bilder müssen im Kopf des Lesers entstehen, nicht auf der Netzhaut.
Erzählung ist - auch - Wissenschaft. Wissenschaft ist - auch - Erzählung.
Keine Möglichkeit darf ausgeschlossen werden, weil sie ungewöhnlich ist. Aber jede Möglichkeit, die ausgeschlossen werden kann, muss verworfen werden.
Auf dem relativ schmalen Grat dessen, was übrig bleibt, wenn man diese Spielregeln anwendet, ist vielleicht etwas entstanden, das man als »Wissenschaftsfiktion« bezeichnen könnte. Es kann Sinnzusammenhänge herstellen, die über die Addition von Fakten hinausgehen und aus spekulativen Wahrscheinlichkeiten erlebte Möglichkeiten machen.
So hat sich die Fachwissenschaft lange Zeit um die Frage der Vermischung von Neandertalern und anatomisch modernen Menschen weltanschaulich grundierte Schlachten geliefert, bis die Untersuchungen von Johannes Krause und Svante Pääbo hier Klarheit schafften. Ja, der Neandertaler und der moderne Mensch haben sich genetisch vermischt. Schon bevor im April 2010 aus Leipzig diese Nachricht gekommen ist, war eine solche Vermischung für die Geschichte, die wir erzählen wollten, konstitutiv. Die Fiktion war der Wahrheit schneller nahegekommen als die Wissenschaft. Dieser schöne Zufall zeigt, dass sich Gedankenspiel und Datenbank nicht ausschließen. Und wenn die Paläogenetiker (fürs Erste) andere Erkenntnisse geliefert hätten, hätte dies in unseren Augen unsere Erzählung nicht widerlegt.
Die Hauptleistung des Erzählens liegt in der Fähigkeit, Menschen und ihre Dinge zur Sprache zu bringen. Was hier - naturgemäß - eine Möglichkeit, aber auch ein Problem beinhaltet: 40 000 Jahre entfernt und ohne die Spur auch nur eines Lautes, eines einzigen Wortes im Archiv, gilt es dennoch, den Figuren, die hier auftreten, eine Sprache in den Mund zu legen. Eine notwendig anachronistische Sprache, immerhin jedoch eine Sprache, die es möglich machen soll, die stumme Rede der Dinge zu verstehen, sie zu übersetzen. Jeder aber weiß, dass Übersetzungen immer nur Annäherungen sind: Mit dem Bewusstsein von PC-Nutzern Eiszeitrituale zu ergründen ist an sich ein fragwürdiges - im wahrsten Sinne ein »des Fragens würdiges« Vorhaben. Denn nur so können wir erkennen, ob und welche Spuren und Brücken es zwischen uns und ihnen gibt.
Ein Gedankenexperiment, das es auch erlaubt, sich die
Frage nach dem Wesen «kultureller Entwicklung«, nach der Bedeutung von »Kunst« neu zu stellen. Dabei wird »Entwicklung« weder als linearer noch als bewusster, gar zielgerichteter Prozess begriffen, sondern als ein Vorgang, bei dem Zufall, Konfrontation mit dem Unbekannten, Reaktion und Mischung die entscheidenden Ingredienzien und Triebfedern sind. »Biokulturelle Evolution« wird als Verlauf begriffen, der nicht das »Recht des Stärkeren« dokumentiert, sondern ein komplexes, stetiges Sich-Neukonditionieren als Schlüsselerlebnis in den Mittelpunkt setzt. Mit anderen Worten, wir zeigen Menschen, die sich permanent neu erfinden müssen, um zu überleben. In diesem und nur in diesem Sinn handelt es sich in der Tat um ein survival of the fittest - was durchaus auch einen Triumph der Schwäche meinen kann.
Denn bei all dem, was wir unter Fortschritt verstehen, geht es letztlich nicht um bessere Waffen oder schärfere Klingen, sondern um die Köpfe und Hände, die damit umgehen. Materielle Kultur ist ohne ihre Benutzer wertlos. Ohne materielle Kultur aber lassen sich umgekehrt auch die spannendsten Ideen nicht umsetzen.
Im Verlauf unserer Geschichte werden wir zu Zeugen geglückter Momente, in denen beide Ebenen einander begegnen, zur Sache und zur Sprache kommen. Es sind Augenblicke, in denen Menschen auf Umweltfaktoren wie plötzliche Klimaveränderungen oder unerwartete Situationen wie etwa die Begegnung mit bis dahin unbekannten Menschengruppen reagieren und dabei Eigenschaften und Fähigkeiten an sich entdecken, von denen sie bis dahin nichts wussten. Zum Beispiel die Fähigkeit, Zufälle als Zusammenhänge zu begreifen, mit Sprache nicht nur einzelne Dinge zu benennen, sondern auch allgemeine Vorstellungen zu umreißen, Konzepte von Raum und Zeit abstrakt auszudrücken und vieles mehr.
Wir alle wissen, dass solche Entwicklungsschübe nicht immer linear erfolgen und nicht immer auf der Grundlage planvollen Handelns oder gar eines Heilsplans. Doch die Fähigkeit des Menschen, insbesondere in Krisen und Umbruchszeiten schnell zu reagieren und den Überlebensspielraum kreativ zu nutzen, könnte das hervorbringen, was wir im Nac...
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