Ein Fall für Inspektor Barbarotti
Ante Valdemar Roos, 59 Jahre alt, ist der Prototyp des Langweilers: grau, unauffällig, in zweiter Ehe mit Alice verheiratet, seit mehr als zwanzig Jahren als Ingenieur in einer Firma beschäftigt, die mittlerweile nur noch Thermoskannen herstellt. Roos ist unzufrieden mit sich, dem Leben, seiner Ehe, weiß aber keinen Ausweg. Doch eines Tages geschieht ein kleines Wunder – er gewinnt im Toto, das er seit dem Tod seines Vaters spielt. Anstatt seine Freude groß hinauszuposaunen, beginnt er ein Doppelleben in einem abgelegenen Häuschen im Wald. Dort macht er bald eine neue Bekanntschaft, die er in seinem ersten Leben so nie für möglich gehalten hätte. Roos freundet sich mit einem jungen Mädchen an, das aus einem Heim für junge Drogenabhängige ausgerissen ist und nun verzweifelt eine Zuflucht sucht. Doch schon bald stört ihr Exfreund die Idylle – und Inspektor Barbarotti hat einen Mordfall zu klären...
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Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der interessantesten und aufregendsten Krimiautoren Schwedens. Für seine Kriminalromane um Kommissar Van Veeteren und Inspektor Barbarotti erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in mehrere Sprachen übersetzt und wurden erfolgreich verfilmt. Daneben schreibt er Psychothriller, die in ihrer Intensität und atmosphärischen Dichte an die besten Bücher von Georges Simenon und Patricia Highsmith erinnern. "Kim Novak badete nie im See von Genezareth" oder "Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla" gelten inzwischen als Klassiker in Schweden, werden als Schullektüre eingesetzt, und haben seinen Ruf als großartiger Stilist nachhaltig begründet. Håkan Nesser lebt mit seiner Frau in Stockholm und auf Gotland.
Am Tag, bevor sich alles veränderte, hatte Ante Valdemar Roos eine Erscheinung.
Er ging mit seinem Vater durch einen Wald. Es war Herbst, und sie hielten einander an der Hand; das Sonnenlicht sickerte durch die hoch aufragenden Nadelbaumkronen, sie folgten dem niedergetretenen Pfad, der sich zwischen Preiselbeergestrüpp und bemoosten Steinen schlängelte. Die Luft war klar und frisch, ab und zu roch es nach Pilzen. Er war wohl fünf oder sechs, in der Entfernung waren Vögel zu hören und das Bellen eines Hundes.
Hier ist das graue Moor, sagte sein Vater. Hier steht oft der
Elch.
Es war in den Fünfzigerjahren. Sein Vater trug eine Lederweste und eine karierte Mütze, jetzt nahm er sie ab, ließ die Hand seines Sohns los und wischte sich mit dem Hemdsärmel die Stirn ab. Er holte die Pfeife und seinen Tabak heraus und fing an, die Pfeife zu stopfen.
Schau dich um, Valdemar, mein Junge, sagte er. Besser als jetzt wird das Leben nie mehr.
Er war sich nicht sicher, ob das wirklich passiert war. Ob das eine richtige Erinnerung war oder nur ein Bild, das aus dem geheimnisvollen Brunnen der Vergangenheit auftauchte. Eine Sehnsucht nach etwas, das es vielleicht nie gegeben hatte. Und ausgerechnet heute, mehr als fünfzig Jahre später, saß er auf einem sonnenwarmen Stein neben seinem Auto, schloss die Augen in der Sonne und fragte sich, was nun Wahrheit war und was Schein. Es war August, und seine Mittagspause war in einer halben Stunde zu Ende. Sein Vater war 1961 gestorben, als Valdemar erst zwölf Jahre alt gewesen war. Wenn er zurückdachte, tauchten oft Erinnerungsfetzen auf, die ein Hauch von Idyll umgab. Meist dachte er, dass es nicht erstaunlich wäre, wenn diese oder jene Szene nie stattgefunden hätte. So im Nachhinein betrachtet.
Doch diese Worte hatten echt geklungen, er hatte nicht das Gefühl, als hätte er es selbst erfunden.
Besser als jetzt wird das Leben nie mehr.
Und an die Mütze und die Weste konnte er sich noch deutlich erinnern. Er war fünf Jahre jünger als ich jetzt, als er starb, dachte er. Vierundfünfzig, älter wurde er nicht.
Er trank den letzten Schluck Kaffee und setzte sich dann hinters Lenkrad. Drehte den Sitz so weit es ging nach hinten und schloss erneut die Augen. Kurbelte die Seitenscheibe herunter, damit ihn der sanfte Wind erreichen konnte.
Schlafen, dachte er, ich schaffe es noch, eine Viertelstunde zu schlafen.
Vielleicht sehe ich noch einmal diese Erscheinung im Wald. Vielleicht passiert etwas anderes Schönes.
Die Firma Wrigmans Elektriska stellte Thermoskannen her. Zu Beginn, Ende der Vierziger und bis in die Achtziger hinein, hatte die Palette aus verschiedenen elektrischen Produkten bestanden, wie Ventilatoren, Haushaltsgeräte und Haartrockner, aber seit den Siebzigerjahren hatte man begonnen, Thermoskannen zu produzieren. Schuld an dieser Veränderung war in erster Linie die Tatsache, dass sich der Firmengründer, Wilgot Wrigman, in Verbindung mit einem Transformatorenbrand im Oktober 1971 buchstäblich in Rauch aufgelöst hatte. Was einer Firma für Elektrogeräte ein schlechtes Image verleiht. Die
Leute vergessen nicht so schnell. Doch der Name wurde beibehalten, es gab Stimmen, die behaupteten, Wrigmans Elektriska sei ein Begriff. Die Fabrik lag in Svartö, einige Kilometer nördlich von Kymlinge, man hatte an die dreißig Beschäftigte, und Ante Valdemar Roos arbeitete als kaufmännischer Leiter seit 1980 dort.
Achtundzwanzig Jahre bis heute. Jeden Tag vierundvierzig Kilometer mit dem Auto; und wenn man außerdem vierundvierzig Arbeitswochen im Jahr rechnete - wenn man schon mal bei Zahlenspielen war - und dazu fünf Tage in der Woche, dann wurden das 271 040 Kilometer, was ungefähr einer siebenfachen Erdumkreisung entsprach. Die weiteste Reise, die Valdemar in seinem Leben gemacht hatte, war auf die griechische Insel Samos gegangen, das war im zweiten Sommer mit Alice gewesen und inzwischen zwölf Jahre her. Man konnte über die Zeit sagen, was man wollte, auf jeden Fall verging sie.
Aber es gab noch eine andere Art von Zeit. Ante Valdemar Roos stellte sich nämlich häufiger vor, dass es zwei stark voneinander abweichende Zeitbegriffe gäbe.
Die Zeit, die dahinraste - die einen Tag dem anderen hinzufügte, eine Falte zur anderen und ein Jahr zum nächsten -, an der war nicht viel zu ändern. Da hieß es nur nach bestem Vermögen dranzubleiben, wie die jungen Hunde an einer läufigen Hündin und die Fliegen an einem Kuharsch.
Mit der anderen Zeit, der immer wiederkehrenden, war es etwas anderes. Sie war langsam und zäh von ihrem Charakter her, manchmal geradezu stillstehend, zumindest konnte es den Anschein erwecken; wie diese zähen Sekunden und Minuten, wenn man als Siebzehnter vor einer roten Ampel an der Kreuzung Fabriksgatan-Ringvägen steht und wartet. Oder wenn man eine halbe Stunde zu früh aufwacht und ums Verrecken nicht wieder einschlafen kann - einfach seitlich im Bett liegt, den Wecker auf dem Nachttisch beobachtet und mit der Dämmerung eins wird.
Und sie war Gold wert, diese ereignislose Zeit, je älter man wurde, umso deutlicher trat einem das vor Augen.
Die Pausen, dachte er häufig, es sind die Pausen zwischen den Ereignissen - und während sich das Eis in einer Novembernacht über den See legt, wenn man ein wenig poetisch sein möchte -, in denen ich mich zu Hause fühle. In denen solche wie ich sich zu Hause fühlen. Er hatte nicht immer so gedacht. Eigentlich erst im letzten Jahrzehnt. Es hatte sich wohl irgendwie eingeschlichen, aber er war sich dessen erst bei einer ganz gewissen Gelegenheit bewusst geworden - erst dann hatte er es in Worte fassen können. Das war an einem Tag im Mai vor fünf Jahren gewesen, als das Auto plötzlich zwischen Kymlinge und Svartö seinen Geist aufgegeben hatte. Es war morgens gewesen, ein paar Minuten, nachdem er die Kreuzung an der Kvartofta-Kirche passiert hatte. Valdemar war an den Straßenrand gerollt, hatte ein paar Mal versucht, wieder zu starten, aber absolut vergebens. Als Erstes rief er Red Cow an und teilte ihr mit, dass er später kommen werde, anschließend den Straßendienst, der versprach, innerhalb einer halben Stunde mit einem Leihwagen bei ihm zu sein.
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