Geschichte und Geschlechter Hg. von Claudia Opitz-Belakhal, Angelika Schaser und Beate Wagner-Hasel
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Martin Lücke ist Professor für Didaktik der Geschichte an der Freien Universität Berlin.
Die Frage "Wann ist ein Mann ein Mann?" beschäftigte bereits die Menschen um 1900. In die Diskussionen um eine ›Krise‹ von Männlichkeit griffen an der Wende von 19. zum 20. Jahrhundert hörbar auch solche Stimmen ein, die in der männlichen Prostitution, also der käuflichen Sexualität von Männern für Männer, eine besondere Bedrohung erblickten. Die Ordnung der Geschlechterverhältnisse und die Sittlichkeit der Gesellschaft standen auf dem Spiel: Die männliche Prostitution besetzte die Imagination vieler Zeitgenossen und insbesondere die Person des männlichen Prostituierten geriet zum Sinnbild für die Gefahren durch deviante Sexualität schlechthin. Damit begann in Deutschland eine sexualwissenschaftliche, juristische, politische und gesellschaftliche Debatte, in der die Grenzen zwischen vorbildlicher und verachtenswerter Männlichkeit, zwischen triebhafter und sozialverträglicher Sexualität ausgehandelt wurden.
Auf einen "Ball der Weiberfeinde" entführte zum Beispiel Richard von Krafft-Ebing, Gerichtsarzt und Professor für Psychiatrie in Graz, im Jahr 1886 die Leser seiner Psychopathia sexualis. Dieses Buch markiert den Beginn der modernen Sexualwissenschaft und fand als bedeutende klinisch-forensische Studie weit über Fachkreise hinaus Beachtung. Verborgen unter dem Schleier starken Tabakqualms, so Krafft-Ebing unter Verwendung des Berichtes einer Berliner Zeitung, nahmen befremdliche Figuren an diesem Tanzvergnügen teil: Damen in rosa Abendgarderobe, die wegen ihres starken Nikotingenusses die Aufmerksamkeit der Betrachter auf sich zogen, erwiesen sich als "Männer in Damenkleidern", genauso wie eine "Balletteuse mit tadelloser Taille", bei der ein "im tiefsten Bass geleisteter Stossseufzer" schließlich ihr biologisches Geschlecht verriet. Diesen seltsamen Gestalten wurde die volle Aufmerksamkeit der männlichen "Weiberfeinde" zuteil, während die "wirklichen Damen auf dem Ball", die ohnehin in der Minderzahl waren, ignoriert wurden und unbeachtet blieben. Unvermittelt und abrupt beendete Krafft-Ebing die Schilderung des bunten Treibens und kommentierte das Geschehen mit den Worten:
"Diese Tatsachen verdienen die volle Aufmerksamkeit der Polizeibehörden, welche in die Lage versetzt sein sollten, gesetzlich ebenso eine Handhabe gegen die männliche Prostitution zu besitzen, wie sie eine solche gegen die weibliche haben. Jedenfalls ist die männliche Prostitution viel gefährlicher für die Gesellschaft als die weibliche und der größte Schandfleck in der Geschichte der Menschheit."
Die Äußerungen von Krafft-Ebing lassen aufhorchen. Vermutet der heutige Leser bei der Schilderung des "Balls der Weiberfeinde" lediglich ein karnevaleskes Tanzvergnügen oder eine recht harmlose Zusammenkunft der homosexuellen Subkultur, so erkannte der Psychiatrieprofessor gegen Ende des 19. Jahrhunderts darin selbstredend eine Veranstaltung der Prostitution zwischen Männern, betonte die gesellschaftliche Gefährlichkeit des Treffens und rief nach Polizeigewalten, um der Auswüchse Herr zu werden. An Krafft-Ebings Ausführungen ist bemerkenswert, dass der Autor in diesem frühen Standardwerk der Sexualpathologie keine explizite Erklärung dafür lieferte, weshalb er den Ball unter den Pauschalverdacht der Prostitution stellte, genauso wenig, wie er explizierte, dass hier sexuelle Dienste gegen Geld oder andere Entschädigungen getauscht wurden. Den gebildeten Zeitgenossen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, für die die Psychopathia sexualis schnell eine fachliche Autorität werden sollte,schien es also offenbar plausibel gewesen zu sein, in einem subkulturellen Treffen der geschilderten Art, bei dem Geschlechterrollen und Sexualitäten bei Tanz und Tabakqualm wild miteinander vermischt wurden, auch einen Marktplatz für käufliche Sexualität unter Männern zu vermuten.
Die Ausführungen von Krafft-Ebing haben ein erstes Licht auf zentrale Aspekte geworfen, unter denen die käufliche Sexualität zwischen Männern im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert wahrgenommen und interpretiert wurde. Der Psychiatrieprofessor ordnete sie auf - aus heutiger Sicht - sehr unscharfe Weise den Phänomenen von Homosexualität und Transvestismus zu und rief nach neuen Polizeigewalten zur Bekämpfung der Prostitution. Die männliche Prostitution erscheint hier als ein besonderes Spannungsfeld in der Auseinandersetzung um Männlichkeiten, Geschlechterkonzepte und männliche Sexualität: In ihr wurden Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, von sexuellem Begehren und geschlechtlich kodierten sexuellen Identitätskonzepten aufgegriffen, (re-)produziert und umgedeutet. So wusste Krafft-Ebing die männliche Prostitution in seiner Fremdwahrnehmung auf dem "Ball der Weiberfeinde" selbstverständlich an einem Ort zu finden, an dem die Geschlechtergrenzen unscharf und vage blieben und Männlichkeit für ihn in erhebliche Unordnung geriet.
Auf welche Weise, so soll in dieser Studie gefragt werden, konnte die Kategorie der Männlichkeit auf dem Feld der männlichen Prostitution wirken und wie haben Prozesse der Herstellung von Männlichkeit diese Form der Prostitution strukturiert?
Mit der männlichen Prostitution gerät dabei ein Themengebiet ins Blickfeld, das bisher weder von der historischen Männlichkeitsforschung oder der historischen Prostitutionsforschung noch als explizites Thema von der Historiografie der Homosexualitäten in ausführlicher Weise bearbeitet worden ist. Das Wirken von Männlichkeitskonstruktionen in sozialen Arrangements ist häufig kaum zu fassen und verschwimmt stattdessen im "überall und nirgends".Männlichkeit ist eine so selbstverständliche Kategorie, dass die Dominanz des Männlichen und die "Generalisierung eines Männlichen zum Allgemein-Menschlichen" oft schwer auszumachen ist. Das gilt auch für männliche Sexualität: Der Sexualitätshistoriker Franz X. Eder erkennt "eine diskursive Leere", wenn es gilt, Quellen zu finden, die sich explizit mit ›normaler‹ männlicher Sexualität beschäftigen. Mit gleichgeschlechtlich begehrenden Freiern und männlichen Prostituierten treten in dieser Studie jedoch zwei Ausprägungen von Männlichkeit in Erscheinung, die im Kaiserreich und in der Wiemarer Republik gerade nicht als selbstverständlich galten, sondern als Bedrohung von ›normaler‹ heterosexueller Männlichkeit und in jedem Fall als etwas eminent Erklärungsbedürftiges. Die männliche Prostitution kann gerade deshalb zum Gegenstand einer geschichtswissenschaftlichen Betrachtung werden, weil hier auf deutliche Weise Abgrenzungen zur oft unsichtbaren ›normalen‹ Männlichkeit zum Vorschein kommen, die nicht nur Auskunft geben über Freiräume und Grenzen der Entfaltung von devianter Männlichkeit, sondern im Rückschluss eben auch über jene ›normale‹ Männlichkeit, die sich herausgefordert sah, sich von solchen alternativen Entwürfen abzugrenzen. Hier zeigt sich ein "Paradoxon der modernen Sexualität" und Männlichkeit auf besonders deutliche Weise: Während ein Phänomen wie die männliche Prostitution als "lichtscheues Treiben" in einer gesellschaftlichen Dunkelzone platziert wurde, hat gerade die diskursive Auseinandersetzung mit ihr einen wahrnehmbaren Quellenbestand hinterlassen. Anders bei ›normaler‹ Männlichkeit und ›normaler‹ männlicher Sexualität: Sie brauchte sich nicht am Rand der Gesellschaft zu verstecken und ist gleichzeitig quellenmäßig viel schwerer zu fassen.
Männlichkeit wirkt in historischen Prozessen nicht als Kategorie für sich, gleichsam allein und losgelöst von anderen Faktoren. Die Wirkungsmächtigkeit von Männlichkeit kann nur verstanden werden, wenn sie als "mehrfach relationale Kategorie" aufgefasst und in Beziehung zu anderen Kategorien des historischen Lebens gesetzt wird. Zum einen tritt Männlichkeit zumeist erst in Relation oder Abgrenzung zu Weiblichkeit hervor. Wer zunächst vermutet, dass durch die physische Abwesenheit von Frauen auf dem Markt der männlichen Prostitution die Relation männlich-weiblich hier unwirksam würde, wird bereits bei einem nur oberflächlichen Blick in Krafft-Ebings Psychopathia sexualis eines Besseren belehrt: Weiblichkeit als kulturelles Deutungsmuster wird in seinen Ausführungen zum wesentlichen Analyseinstrument bei der Darstellung des Treibens auf dem "Ball der Weiberfeinde": Sie erscheint als ein Mittel kultureller Stigmatisierung, um die Verachtung des Autors gegenüber der männlichen Prostitution zum Ausdruck zu bringen. Hier zeigt sich in Anlehnung an John Tosh, "daß Gender allen Aspekten des sozialen Lebens innewohnt, ob nun Frauen physisch anwesend sind oder nicht".
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Taschenbuch. Condizione: Neu. Neuware - Die Prostitution von Männern für Männer fand stets im Verborgenen statt - Spuren hat sie vor allem in Gerichtsakten und in strafrechtlichen und sexualwissenschaftlichen Debatten hinterlassen. Martin Lücke handelt in dieser Studie aus, was im Bereich von Männlichkeit und Sexualität als legitim und was als abweichend und damit als pervers oder kriminell galt. Das Buch analysiert diese Diskurse, aber auch Aussagen der »Kunden« und Prostituierten vor Gericht. Es schreibt auf diese Weise nicht nur eine Geschichte der Homosexualität, sondern der Männlichkeit überhaupt - die Definition des »Abweichenden« konstruierte zugleich das »Normale«.Ausgezeichnet mit dem Hedwig-Hintze-Preis des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, 2008. Codice articolo 9783593387512
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Taschenbuch. Condizione: Neu. Männlichkeit in Unordnung | Homosexualität und männliche Prostitution in Kaiserreich und Weimarer Republik. Dissertationsschrift | Martin Lücke | Taschenbuch | Großformatiges Paperback. Klappenbroschur | 360 S. | Deutsch | 2008 | Campus Verlag | EAN 9783593387512 | Verantwortliche Person für die EU: Campus Verlag GmbH, Werderstr. 10, 69469 Weinheim, info[at]campus[dot]de | Anbieter: preigu. Codice articolo 101813106
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